“Während der Corona-Pandemie gefasste Beschlüsse einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer sind nicht deshalb nichtig, weil die Wohnungseigentümer an der Eigentümerversammlung nur durch Erteilung einer Vollmacht an den Verwalter teilnehmen konnten.”
Das ist der Leitsatz einer Entscheidung des BGH vom 8. März 2024. Hier zeigt der BGH, dass er durchaus in der Lage ist, Dinge auch pragmatsich zu sehen. Die Corona-Pandemie und die damit seinerzeit verbundenen Kontaktbeschränkungen haben alle Menschen und auch unser Rechtssystem vor Herausforderungen gestellt.
Die Willensbildung in einer Wohnungseigentümergemeinschaft findet in der Regel in Versammlungen statt. Dort können die Eigentümer das Wort ergreifen, dort können sie für ihre Sache “kämpfen”, die Miteigentümer von ihrer Sicht der Dinge überzeugen. Während der Corona-Pandemie ging das plötzlich nicht mehr. Solche Ansammlungen an Menschen waren in weiten Teilen verboten. Also kamen Verwalter auf eine Idee, die ja durchaus sinnvoll war: Sie luden zu der Versammlung mit dem Hinweis ein, die Eigentümer dürften bitten nicht persönlich erscheinen, sondern müssten bitte eine Vollmacht auf den Verwalter ausstellen. Eine Unterform dieser Versammlung habe ich seinerzeit selbst erlebt, dort versammelte sich der Verwalter zumindest mit dem Beiratsvorsitzenden und bat in der Einladung darum, dass diesem die Vollmachten erteilt werden mögen.
Im vorliegenden Rechtsstreit wehrte sich ein Eigentümer gegen die auf der Versammlung gefassten Beschlüsse. Wegen einiger formaler Fehler in er Anfechtungsklage war diese aber verfristet, so dass das Gericht nicht mehr über die Anfechtbarkeit entscheiden musste, sondern nur noch über die Nichtigkeit. Das Landgericht als Berufungsinstanz war noch davon ausgegangen, dass die Beschlüsse nichtig seien.
Der BGH sah das anders:
“Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats, dass die in § 24 WEG für die Einberufung einer Eigentümerversammlung geregelten Formvor-schriften nicht zu den zwingenden Bestimmungen und Grundsätzen des Wohnungseigentumsgesetzes gehören, weil sie dispositiv sind und durch Vereinbarungen abgeändert werden können. Die Nichteinladung einzelner Wohnungseigentümer führt deshalb regelmäßig nur zur Anfechtbarkeit der in der Versammlung gefassten Beschlüsse, nicht aber zu deren Nichtigkeit. Der Senat hat die Nichtigkeit der Beschlüsse, ohne dass es darauf ankam, lediglich für den Fall erwogen, dass ein Wohnungseigentümer in böswilliger Weise gezielt von der Teilnahme ausgeschlossen werden soll. Ob an dieser Ausnahme festzuhalten ist und ob – was vor dem Hintergrund der damit einhergehenden Rechtsunsicherheit problematisch sein könnte – eine Nichtigkeit der Beschlüsse auch dann in Betracht kommen könnte, wenn unter normalen Umständen allen Wohnungseigentümern die persönliche Teilnahme an der Versammlung verweigert wird, kann dahinstehen. Jedenfalls während der Corona-Pandemie begangene Rechtsverstöße dieser Art führen schon deshalb nicht zur Nichtigkeit der Beschlüsse, weil die Abhaltung einer „echten“ Eigentümerversammlung unter Einhaltung der §§ 23, 24 WEG zum maßgeblichen Zeitpunkt unmöglich war. Während der Corona-Pandemie befand sich der Verwalter in einer un-auflöslichen Konfliktsituation. Er stand nämlich vor dem Dilemma, entweder das Wohnungseigentumsrecht oder das Infektionsschutzrecht zu missachten. (…) In dieser Ausnahmesituation erfolgte die Durchführung einer Vertreterversammlung regelmäßig – wie auch hier – aus Praktikabilitätserwägungen, um den Wohnungseigentümern auch ohne ein physisches Zusammentreffen eine Beschlussfassung zu ermöglichen. Es lag auch im Interesse der Wohnungseigentümer, dass der Verwalter nicht, wie es teilweise gehandhabt wurde, unter Missachtung des Wohnungseigentumsrechts während der Corona-Pandemie gar keine Versammlung abhielt. Durch eine Vertreterversammlung wurde den Wohnungseigentümern jedenfalls die Fassung von Beschlüssen ermöglicht, die der gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden konnten.”
“Weise Worte” des BGH und ein Stück Pragmatismus in der Aufarbeitung dieser schwierigen Situation. Aus Sicht des Juristen stellten sich damals plötzlich Fragen, wie wir sie seit der Nachkriegszeit nicht mehr erlebt hatten. Die Gesellschaft und jegliche Willensbildung innerhalb der Gesellschaft war herausgefordert, normale Standards konnten zeitweise nicht mehr gelten. Hätte man Dinge rückblickend anders machen können? Vielleicht, aber das ist ja immer das gleiche Thema: Rückblickend ist man (frau) immer schlauer. Es ist so viel schwerer, in einer Krise ad hoc Entscheidungen treffen zu müssen. Der BGH hat dem Verwalter hier zu Recht Absolution erteilt.
Dr. Patrick Kühnemund